Folk Tale

Die beiden Brüder

Translated From

Li Dui Fratielle

AuthorGiambattista Basile
Book TitleLo cunto de li cunti overo lo trattenemiento de peccerille
Publication Date1634
LanguageNeapolitan
TitleDie beiden Brüder
Original TitleLi Dui Fratielle
Original AuthorGiambattista Basile
Original IDtrans-3550.xml
Language codedeu

Der Prinz und seine Gemahlin freuten sich sehr über die glückliche Wendung, die Minec'Aniellos Schicksal genommen, und segneten die Mäuse viel tausendmal, durch die der arme Mann den Stein wiederbekam, die Zauberer hingegen einen Quark davontrugen und sogar das Genick brachen. Sobald aber Cecca die Rennbahn der Rede betreten hatte, schoben alle den Riegel des Stillschweigens vor die Tür der Worte, worauf jene also zu erzählen begann: Es gibt gegen die Angriffe des Schicksals keine bessere Verschanzung als die Tugend, die ein Gegengift gegen Unfälle, eine Stütze in Gefahren und ein Hafen in Drangsalen ist, uns aus dem Feuer errettet, in Stürmen beschützt, von Schmerzen befreit, im Leid tröstet, uns in Bedrängnissen beisteht und nach dem Tod die Leichenrede hält, wie ihr dies aus der Erzählung, die mir schon auf der Zungenspitze schwebt, ersehen werdet. Es war einmal ein Vater mit zwei Söhnen, namens Marcuccio und Parmiero, der, im Begriffe, sein Konto mit der Natur abzuschließen und die Rechnung des Lebens zu zerreißen, sie an sein Bett rief und zu ihnen also sprach: »Meine geliebten Söhne, es kann nicht mehr lange dauern, bis die Häscher der Zeit die Tür meiner Jahre einbrechen, um gegen die Gesetzbestimmungen unseres Landes am Vermögen meines Lebens wegen meiner Schuld an die Erde die Pfändung vorzunehmen; daher darf ich von euch, die ich mehr liebe als mich selbst, nicht scheiden, ohne euch einige nützliche Lehren zurückzulassen, damit ihr mit dem Polarstern des guten Rates dieses Meer der Drangsal durchschiffen und in einen sicheren Hafen einlaufen möget. Öffnet also eure Ohren, denn wenn auch das, was ich euch gebe, nichts zu sein scheint, so müsset ihr doch wissen, daß es ein Schatz ist, den euch die Diebe nicht stehlen, ein Haus, das Erdbeben nicht umstürzen, und ein Besitztum, das die Motten nicht zerfressen können. Zuvörderst und vor allen Dingen seid also gottesfürchtig; denn alles kommt von da oben, und wer diesen Weg verläßt, dem ist weder zu raten noch zu helfen. Gebet euch nicht der Trägheit hin, indem ihr wie die Schweine in der Mistpfütze heranwachset; Arbeit ist keine Schande, man muß sich rühren, so viel man kann, und wenn man auch für andere arbeitet, so füllt man doch seinen eigenen Magen. Seid sparsam mit dem, was ihr habt, wer da spart, verdient; ein Pfennig und noch ein Pfennig machen endlich einen Taler; wer da aufhebt, findet; was du hast, das bist du; heb auf im Sommer, dann hast du im Winter; Freund' und Vettern sind gut beim Schmaus, doch dreimal weh dem leeren Haus; wer Malz hat, kann brauen, und wer Geld hat, kann bauen; wer nicht Moneten hat, ist ein Esel, ein Schaf, hat keine Ruhe im Wachen und im Schlaf; daher streckt euch nie weiter, als die Decke lang ist; denn nur soweit das Geld reicht, so weit kommt man; so viel du hast zu knacken, so weit führe die Backen, aber eine kleine Küche macht ein großes Haus. Schwatzet nicht zuviel, denn die Zunge hat zwar kein Bein, schlägt aber manchem den Rücken ein; höre, sieh und schweig, wenn du in Frieden leben willst; sehen und hören, ohne zu sprechen, rechnet man niemand an zum Verbrechen; iß wenig und sprich wenig, besser bewahrt als beklagt; denn wer viel will sagen, wird sich oft beklagen. Seid mit wenig zufrieden; denn besser ist das Brot, das lange dauert, als der Kuchen, der bald zu Ende geht; besser wenig mit frohem Herzen als noch soviel mit Leid und Schmerzen; wer das Fleisch nicht haben kann, trinke die Brühe; wen andre Fraun nicht zu sich la'n, soll g'nug am eignen Weibe ha'n; besser ein häßlicher Fleck, als ein hübsches Loch; wer den Braten nicht haben kann, nage am Knochen. Gehet immer mit solchen um, die besser sind als ihr, und sollte es euch auch etwas kosten; denn sag mir, mit wem du umgehst, und ich sag' dir, wer du bist; wer sich mengt unter Kleie, den fressen die Säue; wer mit Hunden schlafen geht, steht mit Flöhen auf; dem Schelm gib von dem Deinen und laß ihn laufen; denn böse Gesellschaft bringt den Menschen an den Galgen. – Erst bedenket, dann handelt; denn es ist zu spät, das Bauer zuzumachen, wenn der Vogel fortgeflogen, oder den Brunnen zuzudecken, wenn das Kind hineingefallen ist; erst getan und nachgedacht, hat Menschen schon groß Leid gebracht, und zum Laufen hilft nicht, schnell sein. Fliehet Zank und Streit und setzet nicht den Fuß auf jeden Stein, damit ihr nicht fallet; wer über zu viele Gräben springt, stürzt am Ende hinein; ein Pferd, das ausschlägt, kriegt mehr, als es gibt; wer einen Schlag gibt, bekommt zehn wieder; der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht, und an den Galgen hängt man nicht bloß die Diebe. Seid nicht hochmütig; denn Hochmut kommt vor dem Fall; bück dich und bind dir die Schuh; Hochmut zeugt von Unverstand; der gute Alchimist leitet das Destillat durch die Asche, damit es den Dunst verliere, und der Verständige soll sich stets erinnern, daß die stolzen Gedanken am Ende auch zu Asche werden, damit ihn nicht der Dünkel mit Dunst erfülle. Kümmert euch nicht um Dinge, die euch nichts angehen; denn wer durch den Schornstein kriecht, macht sich schwarz, und wer sich mutwillig in Gefahr begibt, kommt darin um. Haltet euch fern von den Vornehmen; denn die Liebe der Hohen ist des Morgens rot, des Abends tot, darum räumet lieber Abtritte aus, als daß ihr bei Hofe dienet, wo alle Dienste unfruchtbar, alle Pläne erfolglos und alle Hoffnungen leer sind, wo man unbemitleidet schwitzt, ohne Erholung läuft, ohne Licht zu Bett geht, ohne Ruhe schläft und ohne Behagen ißt. Hütet euch vor Hohen, die darniederliegen, und vor Bauern, die emporgestiegen, vor desperaten Bettlern und falschen Dienern, vor unwissenden Fürsten und bestechlichen Richtern, vor eifersüchtigen Weibern und Glückspilzen, vor eitlen Menschen und Weibern, die die Hosen anhaben, vor stillen Wassern und räucherigen Kaminen, vor bösen Nachbarn, verzogenen Kindern und neidischen Menschen. Endlich gebe ich euch wohl zu bedenken: Kunst macht Gunst, wer Grütze im Nischel hat, seinen Verstand am Schleifstein der Erfahrung schärft, wer die Ohren steifhält, sich überall durchhilft; denn wie man's treibt, so geht's. Noch tausend andere Dinge hätte ich euch zu sagen, aber der Tod steht mir schon an der Kehle, und der Atem vergeht mir.« Und indem er dies sagte, hatte er kaum die Kraft, seine Hand emporzuheben, um seine Söhne zu segnen, worauf er sogleich die Segel des Lebens einzog und in den Hafen einlief, in dem alle Leiden dieser Welt ersaufen. Als nun der Vater auf diese Weise hingeschieden war, grub sich Marcuccio seine Worte tief ins Herz und fing an, in der Schule fleißig zu studieren, die Akademien zu besuchen, sich von liederlichen Studenten fernzuhalten und nur von nützlichen Dingen zu reden, so daß er, ehe man sich dessen versah, der gelehrteste Mann des Landes wurde. Da aber nun einmal die Armut die stete Filzlaus der Tugend ist und das Wasser Fortunas sich von den mit dem Öl Minervas gesalbten Menschen fernhält, so blieb der arme Marcuccio immer verachtet und in großer Dürftigkeit, immer mit leerem Beutel und leerem Magen, so daß er es meist satt war, länger Bücherstaub zu fressen, und, voll Verlangen, etwas Nahrhafteres zu schlucken, es müde war, sich bei den Büchern Rat zu holen und doch nirgend Hilfe zu finden, sich mit Abhandlungen zu plagen und seinem Magen doch nie etwas zum Abhandeln geben zu können. Sein Bruder Parmiero hingegen hatte bald angefangen, den ganzen langen Tag hindurch auf das flotteste zu saufen, zu spielen und sich in Kneipen herumzutreiben ohne irgendeine Furcht vor Gott oder Menschen; trotz alledem wurde er aber dick und fett und auf die eine oder andere Weise war sein Beutel immer gespickt, so daß Marcuccio, dies sehend, tiefe Reue darüber empfand, daß er durch den Rat seines Vaters den rechten Weg verfehlt hatte, da ihm die Grammatik nie ein Gramm Fleisch gab, das Füllhorn der Weisheit ihn immer schwarz ließ und nur bitterste Not über ihn ausleerte, und er bei aller Juristerei zwar wußte, was recht ist, aber nicht, wie man sich recht anißt, wohingegen Parmiero sich durch das Knöcheln Fleisch auf die Knochen und durch Spiele mit der Hand Moneten in den Beutel spielte. Endlich jedoch konnte Marcuccio dem Drang der Notwendigkeit nicht länger widerstehen und ging zu seinem Bruder, indem er ihn bat, daß, da er einmal dem Glück im Schoß säße, er sich doch erinnern möge, daß sie beide von einem Fleisch und Blut und aus einem Mutterleib entsprungen wären. Parmiero aber, der durch die Goldtinktur hartleibig geworden war, erwiderte hierauf: »Der du auf den Rat deines Vaters den Studien obgelegen und mir immer das Spiel und die lustigen Gesellschaften vorgeworfen hast, geh nur zu deinen staubigen Büchern und überlaß mich meinem Unglück; denn von mir hast du nicht einmal das Salz zum Brot zu erwarten, da mir die paar Dreier, die ich habe, sauer genug werden und du alt und verständig genug bist, um dir zu erwerben, was du brauchst; jeder muß für sich sorgen, Gott aber für uns alle. Wenn du kein Geld hast, geh stehlen; willst du nicht hungern, so mußt du auch nicht lungern, und hast du Lust zu trinken, so trink Wasser, sollt's auch stinken.« Und nachdem er ihm diese und ähnliche Worte gesagt, kehrte er ihm den Rücken. Als Marcuccio sich von seinem leiblichen Bruder so hartherzig behandelt sah, geriet er in solche Verzweiflung, daß er, entschlossen, das Gold der Seele durch das Scheidewasser des Todes von den Schlacken des Leibes zu reinigen, sich nach einem ungeheuer hohen Berg begab, der, als ein Spion der Erde, erkunden wollte, was da droben in der Luft vorging, oder vielmehr als Sultan aller Berge mit einem Wolkenturban sich zum Himmel emporhob, um sich den Mond daran aufzustecken. Nachdem nun Marcuccio, zwischen Felsen und Höhen, auf einem ganz engen Pfade, so gut er konnte, den Berg hinaufkletternd, den Gipfel erstiegen hatte und nun den tiefen Abgrund vor sich sah, so drehte er dem Brunnen seiner Augen den Hahn auf und wollte dann nach langem Jammern sich köpflings in die Tiefe hinunterstürzen, als eine schöne Frau in grüner Kleidung und mit einem Lorbeerkranz in dem goldgesponnenen Haar ihn am Arm ergriff und also zu ihm sprach: »Was tust du da, Unglücklicher? Wohin läßt du dich von der Verzweiflung reißen? Bist du jener Freund der Tugend, der so viel Öl verbrannt und so viel Schlaf geopfert hat, um sich den Studien hinzugeben? Bist du der, der um seinen Ruhm wie eine rasche Galeere die Welt durchfliegen zu lassen, so lange gearbeitet hat wie ein Galeerensklave? Und nun verlierst du deinen Lohn und bedienst dich nicht der Waffen, die du in der Schmiede der Studien geschmiedet hast, gegen Not und feindliches Geschick? Weißt du denn nicht, daß die Tugend eine Arznei gegen das Gift der Armut ist, ein Schnupftabak gegen den Schnupfen des Neides, ein Rezept gegen die Krankheit des Alters? Weißt du denn nicht, daß die Tugend ein Kompaß ist, um in den Stürmen der Drangsale sicher zu schiffen, eine Windfackel, mit der man in der Nacht der Leiden seinen. Pfad findet, ein festes Gebäude, das dem Erdbeben der Unglücksfälle widersteht? Bedenke, Bedauernswerter, bedenke, was du tust, und kehre den Rücken nicht der zu, die dir Mut in Gefahren, Kraft in Bedrängnis, Geduld in Verzweiflung verleihen kann. Wisse, daß der Himmel dich auf diesen so schwer zu ersteigenden Berg, wo die Tugend ihren Wohnsitz hat, geschickt hat, damit sie selbst, die du mit großem Unrecht anklagst, dich der bösen Absicht entreiße, die dich verblendet. Öffne also die Augen, fasse Mut, ändere deinen Sinn, und damit du siehst, daß die Tugend immer gut ist, immer Wert hat und immer Hilfe bringt, so nimm hier dieses Papierchen mit einem Pulver und begib dich in das Königreich Breitenfeld, wo die Tochter des Königs dem Tod nahe ist, da sie kein Mittel für ihre Krankheit finden kann; gib ihr dieses Pulver in einem frischen Ei; sie wird dadurch ihrem Übel, das ihr bis jetzt wie eine Einquartierung alles Leben ausgesaugt hat, sofort ein Delogierungsdekret zukommen lassen, du aber wirst eine so große Belohnung erhalten, daß du dir die Armut vom Leibe schaffen und ohne Hilfe irgendeines anderen Menschen fortan deinem Verdienst gemäß leben wirst.« Marcuccio, der der Rednerin an der Nase ansah, wer sie war, warf sich ihr zu Füßen und bat sie um Verzeihung für die Torheit, die er habe begehen wollen, indem er sprach: »Die Decke ist mir von den Augen gefallen, und ich erkenne an deinem ganzen Wesen, daß du die Tugend bist, deren Lehren von jedermann gepriesen, aber nur von wenigen befolgt werden, die Tugend, die es sich angelegen sein läßt, den Geist zu erheben, den Verstand zu schärfen, die Vernunft zu läutern, lobenswerte Bestrebungen zu unterstützen und Schwingen zum Fluge bis in den obersten Himmel zu verleihen; ich erkenne dich jetzt und bereue es tief, daß ich mich der von dir verliehenen Waffen so schlecht bedient habe, so wie ich dir auch gelobe, von Stund an mich dergestalt durch dein Gegengift zu feien, daß mir auch das stärkste Gift der Versuchung fürderhin nichts anhaben soll.« Indem Marcuccio ihr nun bei diesen Worten die Füße küssen wollte, verschwand sie vor seinen Augen und ließ ihn so erquickt und gestärkt zurück wie einen armen Kranken, dem, wenn der Anfall vorüber ist, eine Herzstärkung gegeben wird. Er stieg hierauf den Berg hinab und begab sich nach Breitenfeld. Im Palast des Königs angelangt, ließ er ihn alsbald wissen, daß er die Prinzessin von ihrer Krankheit heilen wolle. Der König empfing ihn mit größter Freude und allen möglichen Ehrenbezeigungen und geleitete ihn in das Gemach seiner Tochter, wo Marcuccio das arme Mädchen auf einem Gurtbett liegend und so abgezehrt und ausgemergelt fand, daß man an ihr nur noch Haut und Knochen sah; die Augen waren so tief hineingesunken, daß man, um ihre Sterne zu sehen, Galileis Teleskops bedurft hätte; ihre Nase war so spitz, daß sie als Stuhlzäpfchen hätte dienen können, ihre Backen waren so eingefallen wie die eines Skeletts. Die Unterlippe hing ihr aufs Kinn herab, die Brust war flach wie ein Brett, und die Arme glichen den abgenagten Schenkelknochen eines Lämmchens; mit einem Wort, sie bot einen dermaßen kläglichen Anblick, daß sie mit dem Kelch des Leidens dem Mitleid zuzutrinken schien. Als Marcuccio dieses Bild des Elends vor sich sah, traten ihm die Tränen in die Augen, indem er zugleich bedachte, wie sehr die Hinfälligkeit der menschlichen Natur den Angriffen der Jahre, den Veränderungen des Leibes, den Stürmen des Lebens unterworfen ist. Er forderte jedoch bald ein ganz frisches Hühnerei, ließ es auf ein paar Augenblicke ans Feuer setzen, schüttete dann das Pulver hinein und gab es der Prinzessin fast mit Gewalt ein, worauf er sie mit vierfacher Decke zudeckte. Die Nacht war aber noch nicht in den Hafen eingelaufen und vor Anker gegangen, als die Kranke ihre Dienerinnen rief, um sich von ihnen neues Bettzeug geben zu lassen, da das, auf dem sie lag, von Schweiß ganz durchnäßt war; und nachdem sie selbst abgetrocknet und ihr Lager neu gemacht worden, forderte sie auch etwas Erfrischendes, ein Begehren, das ihr in den sieben Jahren ihrer Krankheit nicht über den Mund gekommen war. Man faßte daher die beste Hoffnung, gab ihr einen erquickenden Trank, und indem sie alle Stunde sich mehr und mehr erholte und ihr Appetit alle Tage zunahm, war keine Woche vergangen, als sie sich auch auf das vollkommenste wiederhergestellt sah und das Krankenlager verließ. Der König verehrte deshalb Marcuccio wie den Gott der Arzneikunde, machte ihn nicht nur zum Herrn einer großen Baronie, sondern erhob ihn auch zum ersten Rat seines Hofes und vermählte ihn mit der reichsten Dame des Landes. Inzwischen war Parmiero alles wieder losgeworden, was er besessen hatte; denn Spielgeld ist wie gewonnen, so zerronnen, und das Glück eines Spielers unbeständiger als irgend etwas anderes; dergestalt, daß er, sich arm und unglücklich sehend, den Entschluß faßte, so weit zu gehen, bis sich durch Veränderung seines Aufenthaltes auch sein Geschick ändere oder sein Name aus der Stammrolle des Lebens ausgestrichen würde. Er machte sich daher auf den Weg und langte nach sechsmonatigem Umherstreifen so matt und müde in Breitenfeld an, daß er sich nicht mehr auf den Beinen zu halten vermochte, und da er überdies kein Fleckchen hatte, wo er seinen Kopf hinlegen konnte, ihn auch der Hunger immer heftiger quälte und die Kleider ihm in Lumpen vom Leibe fielen, geriet er in solche Verzweiflung, daß er außerhalb der Stadt in einem verfallenen Hause seine Strumpfbänder aus gesponnener Baumwolle abnahm, sie zusammenknüpfte, daraus eine gehörige Schleife machte, diese an einen Balken befestigte und dann, auf ein Häufchen Steine, das er sich selbst gemacht, steigend, sich herunterfallen ließ. Nun wollte aber sein Geschick, daß der Balken verfault und wurmstichig war und bei dem Ruck, den jener sich gab, mitten auseinanderbrach, daher zwar der lebendig Gehenkte sich seine Rippen an den unten liegenden Steinen so übel zurichtete, daß er den Fall einige Tage lang fühlte, zugleich aber auch fielen, während der Balken auseinanderging, eine Anzahl goldener Ketten, Halsbänder und Ringe, die in der Höhlung des Holzes verborgen gewesen waren, auf die Erde und unter anderem auch ein Beutel aus Korduan mit einer ziemlichen Menge Taler darin. Sobald also Parmiero sah, daß er durch einen Galgensprung den Graben der Armut übersprungen hatte, wäre er, wie vorher aus Verzweiflung, so jetzt vor Freude fast gestorben; denn nun hing ihm auf einmal wieder der Himmel voller Geigen, und indem er dieses Geschenk des Glücks rasch von der Erde zusammenraffte, lief er spornstreichs in ein Wirtshaus, um seine Lebensgeister, die kurz zuvor dem Entschwinden so nahe gewesen, wieder aufzufrischen. Nun hatten aber Diebe zwei Tage vorher diese Goldsachen demselben Wirt gestohlen, zu dem Parmiero jetzt essen ging, und sie in jenem, ihnen wohlbekannten Balken versteckt, um sie nach und nach hervorzuholen und zu verjubeln; als daher Parmiero sich den Magen gehörig angefüllt hatte und den Beutel herauszog, um zu bezahlen, wurde der vom Wirt sofort erkannt, so daß dieser alsbald einige Gerichtsdiener, Kunden seines Hauses, herbeirufen und Parmiero fein säuberlich vor den Richter führen ließ. Dort wurde der Gefangene noch weiter durchsucht, das Corpus delicti bei ihm gefunden und er nach kurzem Prozeß als überführt dazu verdammt, den Dreibein zu zieren und einen Lufttanz aufzuführen. Als nun der unglückliche Parmiero sich in dieser Tinte sah und merkte, daß auf die Vorfeier eines wollenen Strumpfbandes das Fest eines hänfenen Halsbandes und auf die Probe mit einem faulen Balken die Hauptvorstellung mit dem Querholz eines neuen Galgens folgen sollte, fing er an, mit den Zähnen zu klappern und auszurufen, daß er unschuldig wäre und gegen dieses Urteil berufe. Während er aber so durch die Straßen ging, heulend und schreiend, daß es keine Gerechtigkeit gäbe, daß die Armen nicht gehört und die Urteile aufs Geratewohl gefällt würden und daß, weil er dem Richter nicht die Hände versilbert, dem Schreiber nichts gesteckt, den Beisitzer nicht geschmiert und dem Prokurator nicht den Beutel gefüllt, er jetzt zu dem Dreibein noch seine eigenen beiden Beine hinzufügen sollte, begegnete er zufällig dem Bruder, der als Beisitzer des königlichen Rates und Oberrichter den Verbrecher vor sich kommen ließ, um zu hören, was er zu sagen hätte, und nachdem er den Fall vernommen, zu ihm sprach: »Beruhige dich, mein Freund; denn du weißt nicht, was für ein Glück dich erwartet und daß du, der du beim ersten Versuch ein Halsband von drei Spannen gefunden hast, bei diesem zweiten sicherlich ein anderes von drei Schuh finden wirst. Geh nur immer hin und laß es dir nicht leid sein; denn der Galgen ist dein leiblicher Bruder, und da, wo andere ihr Leben verlieren, füllst du dir den Beutel.« Da Parmiero sich auf diese Weise aufziehen hörte, sprach er zu dem Richter: »Ich bin vor euch gekommen, um Gerechtigkeit zu erlangen, nicht um mich verhöhnen zu lassen; meine Hände sind rein von dem Vergehen, dessen man mich anklagt, und ich bin ein ehrlicher Mann, wenngleich ihr mich so zerrissen und zerlumpt seht; denn die Kutte macht den Mönch nicht; und nur, weil ich auf den Rat meines Vaters Marchionno und meines Bruders Marcuccio nicht gehört habe, bekomme ich jetzt ein eisernes Halsband und bin im Begriff, unter den Füßen des Scharfrichters zu der dreisaitigen Violine eine vierte hinzuzufügen.« Als Marcuccio seinen und seines Vaters Namen erwähnen hörte, so regte sich in ihm das brüderliche Blut, und indem er Parmiero lange und genau betrachtete, schien es ihm, wie wenn er ihn erkenne, bis er endlich vollkommen den Bruder in ihm entdeckte und sich von Scham und Liebe, von Verwandtschaft und Ehre, von Gerechtigkeit und Mitleid ergriffen sah; er schämte sich nämlich, sich als Bruder eines Galgenvogels zu entdecken, es schmerzte ihn, sein Fleisch und Blut in solch einer Lage zu sehen, die Bruderliebe trieb ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, der Sache eine andere Wendung zu geben, und die Ehre zog ihn zurück, damit er sich nicht vor dem König als Bruder eines wegen longorum fingerorum Angeklagten zu schämen brauche; die Gerechtigkeit verlangte, daß dem verletzten Gesetz Genugtuung gegeben werde, und das Mitleid drang in ihn, daß er sich die Rettung seines leiblichen Bruders angelegen sein ließe. Während er sich nun so mit seiner Überlegung auf der Kippe und mit seinem Entschluß in Ungewißheit befand, erschien plötzlich ein Gerichtsdiener im vollen Lauf, so daß ihm die Zunge zum Halse heraushing, und rief aus: »Heda, holla, halt ein mit der Hinrichtung!« – »Was ist los?« fragte Marcuccio, worauf jener versetzte: »Zum Glück für diesen armen Teufel hat sich etwas Wunderbares zugetragen; denn zwei Spitzbuben, die eine gewisse Summe Geldes und noch andere Kostbarkeiten, die sie in dem Balken eines alten Hauses versteckt hatten, hervorholen wollten und sie nicht mehr vorfanden, so daß jeder von ihnen dachte, der andere habe ihm diesen Streich gespielt, sind sich in die Haare geraten, haben einander tödlich verwundet und dann bei Ankunft des Richters alles bekannt, so daß dieser, da auf solche Weise die Unschuld dieses armen Menschen an den Tag gekommen ist, mich hergesandt hat, um die Hinrichtung zu verhindern und ihn vom Tode zu retten, da er frei von aller Schuld ist.« Kaum vernahm dies Parmiero, so wurde er, der eben erst Furcht gehabt, eine Elle länger zu werden, um eine Spanne höher; Marcuccio aber, der seinen Bruder wieder zu Ehren gebracht sah, warf die Maske ab, gab sich ihm zu erkennen und sprach: »Wenn du nun erfahren hast, lieber Bruder, in welches Verderben Laster und Spiel stürzen, so sieh nun auch, welches Glück und welchen Segen uns die Tugend verleiht. Jetzt aber komm ohne weiteres in mein Haus und genieße zusammen mit mir die Früchte der Tugend, die dir so sehr zuwider war; denn ich habe die Verachtung, die du mir erwiesen, ganz vergessen und werde dich fortan mit aller Liebe eines Bruders umfassen.« Indem er dies sagte, umarmte er Parmiero und führte ihn in sein Haus, wo er ihn alsbald von Kopf bis Fuß neu bekleidete und ihn auf unwiderlegliche Weise erkennen ließ, daß alles andere Wind ist und Die Tugend allein den Menschen glücklich macht.


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