Folk Tale

Von einem Fenster im Vartou

Translated From

Fra et vindue i Vartov

AuthorH.C. Andersen
Book TitleEventyr
Publication Date1847
LanguageDanish

Other Translations / Adaptations

Text titleLanguageAuthorPublication Date
Desde una ventana de VartouSpanish__
By the almshouse windowEnglishH. P. Paull1872
LanguageGerman
OriginDenmark

Nach dem grünen Walle hinaus, der sich rings um Kopenhagen zieht, liegt ein grosses rotes Haus mit vielen Fenstern, in denen Balsaminen und Ambrabäumchen wachsen; innen sieht es ärmlich aus und armes, altes Volk wohnt dort. Es ist das Vartou, das Armenhaus.

Sieh, oben lehnt sich eine alte Jungfer gegen den Fensterrahmen. Sie pflückt ein welkes Blatt von der Balsamine und sieht auf den grünen Wall hinaus, wo lustige Kinder sich tummeln. Woran denkt sie? Ein Lebensschicksal zieht an ihr vorüber.

Die ärmlichen Kleinen, wie glücklich sie spielen! Welch rote Wangen, welch strahlende Augen haben sie, aber an den Beinchen nicht Schuhe noch Strümpfe. Sie tanzen auf dem grünen Walle, von dem die Sage erzählt, dass man vor vielen, vielen Jahren, als die Erde unter dem Wall immer wieder fortsank, ein unschuldiges Kind mit Blumen und Spielzeug in ein offenes Grab lockte, das zugemauert wurde, während die Kleine spielte und ass. Von diesem Tage an lag der Wall fest und trug bald einen üppig grünenden Rasen. Die Kleinen kannten die Sage nicht, sonst würden sie das Kind noch immer weinen hören unter der Erde, und der Tau auf dem Grase würde ihnen wie brennende Tränen erscheinen. Sie kannten nicht die Geschichte von Dänemarks König, der, als der Feind draussen lag, hier vorbeiritt und schwor, er wolle eher sterben als sich ergeben. Da kamen die Männer und Frauen der Stadt und gossen kochendes Wasser über die weissgekleideten Feinde, die im Schnee die äussere Wallseite erkletterten.

Lustig spielen die armen Kleinen.

Spiele, Du kleines Mädchen. Bald kommen die Jahre, die schönen, glücklichen Jahre; die Konfirmanden spazieren Hand in Hand, Du gehst im weissen Kleide. Es hat Deine Mutter genug gekostet, ob es auch aus einem grösseren alten zurechtgenäht wurde. Du bekommst einen roten Schal, der fast nachschleppt, so lang ist er; aber so kann man doch sehen, wie gross er ist, wie allzugross. Du denkst an Deinen Staat und an den lieben Gott. Herrlich ist so eine Wanderung auf dem Walle. Und die Jahre vergehen und manch trüber Tag, Du aber hast Deinen frischen Jugendsinn. Und dann bekommst Du einen Freund, kaum weisst Du es selbst. Ihr begegnet Euch; Ihr wandert auf dem Walle im zeitigen Frühjahr, wenn alle Kirchenglocken den Busstag einläuten. Noch sind dort keine Veilchen zu finden, aber draussen vor dem Rosenburg-Schloss steht ein Baum mit den ersten grünen Knospen, da steht Ihr stille. Jedes Jahr treibt der Baum neues Grün, doch nicht das Herz in der Menschenbrust. Mehr dunkle Wolken streifen darüber hin, als der Norden kennt. Armes Kind! Deines Bräutigams Brautkammer ist der Sarg, und Du wirst eine alte Jungfer; vom Vartou siehst Du hinter Balsaminen auf die spielenden Kinder herab, siehst Dein Schicksal sich wiederholen.

Dies ist das Lebensschicksal, das vor der alten Jungfer vorüberzieht, die auf den Wall hinausblickt, wo die Kinder mit roten Wangen und ohne Strümpfe und Schuhe jubeln, wie all die andern Vögel des Himmels.


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