Folk Tale

Das Unglaublichste

Translated From

Det utroligste

AuthorH.C. Andersen
Book TitleEventyr
Publication Date1835
LanguageDanish

Other Translations / Adaptations

Text titleLanguageAuthorPublication Date
Lo más increíbleSpanish__
The most incredible thingEnglishH. P. Paull1872
LanguageGerman
OriginDenmark

Derjenige, welcher das Unglaublichste tun konnte, sollte die Tochter des Königs und das halbe Reich haben. Die jungen Leute, ja selbst die Alten auch, strengten alle ihre Gedanken, Sehnen und Muskeln an. Einer ass so viel, dass er starb; zwei richteten sich durch Trinken zugrunde, um nach ihrem Geschmack das Unglaublichste zu leisten, aber nicht auf solche Weise sollte das geschehen.

Kleine Strassenjungen übten sich darauf, sich selber auf den Rücken zu spucken; das sahen sie für das Unglaublichste an.

An einem festgesetzten Tage sollte gezeigt werden, was ein jeder als das Unglaublichste leisten könne. Als Richter waren Knaben von drei Jahren bis zu Männern von neunzig Jahre bestellt. Es fand eine ganze Ausstellung der unglaublichsten Dinge statt, aber alle waren bald darüber einig, dass das Unglaublichste eine grosse Stubenuhr in einem Futteral sei, welche im Äusseren und Inneren merkwürdig ausgedacht war. Bei jedem Stundenschlage kamen lebendige Bilder zum Vorschein, welche die Zeit anzeigten, Es waren zwölf ganze Vorstellung mit beweglichen Figuren, mit Gesang und Rede. Das war das Unglaublichste, sagte das Volk.

Es schlug ein Uhr, und Moses stand am Berge und schrieb auf die Tafel des Gesetzes den ersten Glaubenssatz: "Es ist nur Ein einziger und wahrer Gott."

Es schlug zwei Uhr, da zeigte sich der Garten des Paradieses, wo Adam und Eva sich fanden, glücklich beide, ohne auch nur einmal einen Kleiderschrank zu besitzen – aber den brauchten sie auch nicht.

Mit dem Schlage drei erschienen die Heiligen Drei Könige, der eine kohlschwarz, aber dafür konnte er nichts, die Sonne hatte ihn geschwärzt. Sie kamen mit Räucherwerk und Kostbarkeiten.

Mit dem Schlage vier kamen die Jahreszeiten; der Frühling mit einem Kuckuck auf einem grünen Buchenzweige, der Sommer mit einem Grashüpfer auf einer reifen Kornähre, der Herbst mit einem leeren Storchenneste, der Winter mit einer alten Krähe, welche Geschichten im Winkel hinter dem Ofen erzählen konnte, alte Sagen.

Wenn es fünf Schlug, zeigten sich die fünf Sinne, das Gesicht als Brillenmacher, das Gehör als Kupferschmied, dem Geruche folgten Veilchen und Waldmeister, der Geschmack war ein Koch und das Gefühl ein Leichenbitter mit einem Trauerflor, welcher bis auf die Hacke herunterreichte.

Die Uhr schlug sechs, da sass ein Spieler, er warf den Würfel, und der fiel so, dass sechs oben stand.

Dann kamen die sieben Wochentage oder die sieben Todsünden – darüber waren die Leute sich nicht ganz einig. Sie gehörten zusammen und waren nicht leicht zu unterscheiden.

Dann kam ein Chor Mönche und sang den Achtuhrsang.

Dem Schlage neun folgten die neun Musen: eine war bei der Astronomie angestellt, eine bei dem historischen Archiv, die übrigen gehörten zum Theater.

Mit dem Schlage zehn trat Moses wieder auf mit den zehn Gesetztafeln. Alle Gebote Gottes standen darauf, und deren waren zehn.

Die Uhr schlug wieder, da hüpften und sprangen kleine Jungen und kleine Mädchen, welche ein Spiel spielten und dazu sangen: "Bro, bre, brille, die Uhr hat elf geschlagen!" Und das hatte sie geschlagen.

Jetzt schlug es zwölf, und der Nachtwächter mit Mantel und Morgenstern trat vor und sang den Vers des alten Nachtwächterliedes:

"Es war um die Stunde der Mitternacht

da ward der Erlöser geboren."

Und während er sang, wuchsen Rosen, und die wurden Engelsköpfe, welche von regenbogenfarbigen Flügeln getragen wurden.

Das war lieblich zu hören, schön zu sehen. Das Ganze war ein unvergleichliches Kunstwerk, das Unglaublichste, sagten alle Menschen.

Der Künstler war ein junger Mann, er war herzensgut, fröhlich wie ein Kind, seinen armen Eltern hilfreich, er verdiente die Prinzessin und das halbe Reich.

Der Tag der Entscheidung war gekommen, die ganze Stadt war im Festkleide, und die Prinzessin sass auf dem Throne des Landes, welcher neu gepolstert, aber dadurch doch nicht bequemer und behaglicher geworden war. Die Richter ringsumher blickten pfiffig auf den mutmasslichen Sieger, welcher froh und freudig dastand, hatte er doch das Unglaublichste geleistet.

"Nein, das will ich jetzt tun!" rief in eben diesem Augenblick ein langer starkknochiger kräftiger Mann. "Ich bin der Mann für das Unglaublichste!" Und damit schwang er eine grosse Axt gegen das Kunstwerk.

Krick, krack, krick! Da lag das ganze. Räder und Federn flogen ringsumher, alles war zertrümmert.

"Das konnte ich tun," sagte der Mann, "mein Tun hat sein Werk geschlagen und euch alle geschlagen. Ich habe das Unglaublichste getan!"

"Ja, solch ein Kunstwerk zertrümmern!" sagten die Richter. "Ja, das ist das Unglaublichste!" Das ganze Volk sagte dasselbe, und so sollte er denn die Prinzessin und das halbe Reich haben, denn ein Wort ist ein Wort, wenn es auch das Unglaublichste ist.

Nun wurde von den Mauern und allen Türmen der Stadt geblasen: "Die Hochzeitsfeier beginnt!" Die Prinzessin war durchaus nicht erfreut darüber, aber lieblich anzuschauen war sie und kostbar gekleidet. Die Kirche erglänzte von Lichtern, spät am Abend, das nimmt sich am besten aus. Die adligen Jungfrauen der Stadt sangen und führten die Prinzessin, die Ritter sangen und führten den Bräutigam, der sich blähte und stolzierte, als wenn er gar nicht abbrechen könnte. Jetzt verstummte der Gesang. Es ward so stille, dass man hätte eine Nadel zur Erde fallen hören können, aber plötzlich folg mit Lärm und Krachen die grossen Kirchentür auf, und bum! bum! da marschierte das ganze Uhrwerk herein in den Kirchengang und stellte sich zwischen Braut und Bräutigam auf. Tote Menschen können nicht wieder gehen, das wissen wir recht gut, aber ein Kunstwerk kann wieder gehen, der Körper war zertrümmert, aber nicht der Geist; der Kunstgeist spukte, und das war kein Spass.

Leibhaftig stand das Kunstwerk da, als wäre es ganz und unberührt. Die Stunden schlugen, eine nach der andern, bis zur zwölften Stunde, und da wimmelten die Gestalten hervor, zuerst Moses, auf dessen Stirn eine Flamme glänzte; er warf die schweren steinernen Gesetztafeln dem Bräutigam auf die Füsse, welche er an den Fussboden der Kirche fesselte.

"Ich kann sie nicht wieder aufheben!" sagte Moses. "Du hast mir den Arm abgeschlagen. Stehe denn, wo du stehst!"

Jetzt kamen Adam und Eva, die Weisen vom Morgenlande und die vier Jahreszeiten, jeder sagte ihm unangenehme Wahrheiten: "Schäme dich!" Aber er schämte sich nicht.

Alle die Gestalten, welche jeder Glockenschlag aufzuzeigen hatte, traten aus dem Uhrwerk heraus, und alle wuchsen zu einer bedenklichen Grösse, es war fast, als wenn für wirkliche Menschen kein Platz übrigbleibe. Und als mit dem zwölften Schlage der Wächter hervortrat mit Mantel und Morgenstern, entstand eine eigentümliche Unruhe: der Wächter ging gerade auf den Bräutigam zu und schlug ihn mit dem Morgenstern vor die Stirn.

"Liege da!" sagte er, "Leiche für Leiche. Wir sind gerächt und unser Meister mit uns! Wir verschwinden!"

Und das ganze Kunstwerk verschwand, aber die Lichter rings in der Kirche wurden zu grossen Lichtblumen, und die vergoldeten Sterne dort unter der Wölbung sandten lange Strahlen herab. Die Orgel klang von selber. Alle Menschen sagten, das sei das Unglaublichste, was sie je erlebt hätten.

"Wollen Sie dann den Rechten rufen?" sagte die Prinzessin. "Er, der das Kunstwerk gemacht hat, soll mein Ehegatte und Herr sein!"

Und er stand in der Kirche, und sein Gefolge war das ganze Volk! Alle freuten sich, alle segneten ihn. Nicht ein Neider war da – ja, das war das Unglaublichste!


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