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Der Wolf und das Lamm

LanguageGerman
OriginFrance

Des Stärkren Recht ist stets das beste Recht gewesen – ihr sollt's in dieser Fabel lesen. Ein Lamm löscht' einst an Baches Rand den Durst in dessen klarer Welle. Ein Wolf, ganz nüchtern noch, kommt an die Stelle, sein gier'ger Sinn nach guter Beute stand. »Wie kannst du meinen Trank zu trüben dich erfrechen?« begann der Wüterich zu sprechen. »Die Unverschämtheit sollst du büßen, und sogleich!« »Eu'r Hoheit brauchte«, sagt' vor Schrecken bleich, das Lamm, »darum sich nicht so aufzuregen! Wollt doch nur gütigst überlegen, daß an dem Platz, den ich erwählt, von Euch gezählt, ich zwanzig Schritt stromabwärts stehe; daß folglich Euren Trank – seht's Euch nur an – ich ganz unmöglich trüben kann.« »Du trübst ihn dennoch!« sprach er. »Wie ich sehe, bist du's auch, der auf mich geschimpft voriges Jahr!« »Wie? Ich geschimpft, da ich noch nicht geboren war? Die Mutter säugt mich noch, fragt nach im Stalle.« »Dein Bruder war's in diesem Falle!«. »Ich habe keinen!« – »Dann war's dein Vetter! Und ihr hetzt mich und verfolgt mich alle, ihr, euer Hirt und euer Hund. Ja, rächen muß ich mich, wie alle sagen!« Er packt das Lamm, zum Walde schleppt er's drauf, und ohne nach dem Recht zu fragen, frißt er das arme Lämmlein auf.


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